StrategieCamp 2025: Mit der Spannungsbilanz strategisch sichtbar machen, wo der Schuh im Unternehmen drückt

von Manuel Mederer

Meine wichtigsten Learnings aus dem Vortrag von Prof. Dr. Nils Herda.

Prof. Dr. Nils Herda (Professor der Wirtschaftinformatik an der Hochschule Albstadt-Sigmaringen) sprach über die „Spannungsbilanz“ – ein Instrument, das klassische Finanzkennzahlen mit immateriellen Faktoren verbindet und so etwas wie ein Frühwarnsystem für Unternehmen werden kann.

Gerade weil ich beruflich viel mit Strategie, Positionierung und Kommunikation zu tun habe, fand ich diesen Blick auf Unternehmenssteuerung spannend: Weg vom reinen Rückspiegel-Blick der Bilanz hin zu den Spannungen, die sich schon lange vorher im System aufbauen.

 

Von der Bilanz zur Spannungsbilanz

Der Ausgangspunkt ist schnell beschrieben: Eine klassische Bilanz zeigt vor allem materielle und finanzielle Größen – Gebäude, Maschinen, Umsätze, Gewinne. Das ist wichtig, aber immer rückwärtsgewandt. Wir schauen auf das, was war, und hoffen, dass sich die Zukunft ähnlich entwickelt.

Herda knüpft hier an die Mewes-Strategie an und an ältere Gedanken von Wolfgang Mewes rund um das Thema „Alle Bilanzen sind falsch“. Die Kernthese: Wenn wir immaterielle Werte wie Know-how, Kundenbeziehungen oder Markenvertrauen ausblenden, sehen wir nur einen Ausschnitt der Realität. Und gerade diese immateriellen Faktoren sind es oft, die über den künftigen Erfolg entscheiden.

Die Spannungsbilanz setzt genau dort an. Sie versucht, die „Spannungen“ sichtbar zu machen, die sich zwischen Unternehmen, Kunden und Umfeld aufbauen – bevor sie sich in Umsatz- oder Ertragseinbrüchen zeigen.

 

Warum immaterielle Werte so wichtig sind

Im Vortrag wurde sehr deutlich, wie stark immaterielle Werte heute über Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Herda unterschied grob zwischen zwei Blickrichtungen:

  • Innenperspektive: Know-how-Vorsprung, Innovationsfähigkeit, Prozesse, IT-Kompetenz, Motivation und Engagement im Team.
  • Außenperspektive: Bekanntheit in der Zielgruppe, Qualität des Kundenstamms, Vertrauen in die Marke, Weiterempfehlungen, Marktposition.

All das taucht in einer klassischen Bilanz höchstens am Rand auf – in der Realität sind es aber genau diese Faktoren, die bestimmen, wie robust ein Geschäftsmodell wirklich ist. Wenn zum Beispiel der Kundenstamm langsam ausdünnt oder das Know-how im Unternehmen wegbricht, ist das ein deutliches Warnsignal – lange bevor es sich in den Zahlen niederschlägt.

 

Wie die Spannungsbilanz funktioniert

 

Ganz praktisch ist die Spannungsbilanz ein Kennzahlengerüst, in dem unterschiedliche Faktoren auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Der Trick: Alle Werte werden relativ dargestellt, meist in Prozent zu einem Referenzwert (z.B. Vorjahr oder Planwert).

  • 100 % steht für den Ausgangswert (Vorjahr oder Ziel).
  • Werte über 100 % zeigen eine positive Entwicklung.
  • Werte unter 100 % zeigen Rückgang oder Schwächung.

In einer Spannungsbilanz stehen dann zum Beispiel:

  • Umsatz und Ertrag
  • Mitarbeiterzufriedenheit und Fluktuation
  • Bekanntheit in der Zielgruppe
  • Anzahl qualifizierter Leads
  • Anzahl wiederkehrender Kunden
  • IT-Stand, Cybersecurity, Innovationsgrad
  • und weitere, für das Unternehmen relevante Faktoren

 

Wichtig fand ich den Hinweis, dass es nicht darum geht, alles millimetergenau zu messen. Manchmal reichen solide Schätzungen oder Experteneinschätzungen (z.B. vom Vertrieb). Entscheidend ist, Entwicklungen sichtbar zu machen und Abweichungen zu erkennen – nicht, die zehnte Nachkommastelle zu diskutieren.

Herda sprach außerdem von einer „Toleranzzone“: Kleinere Abweichungen sind normal. Spannend wird es dort, wo Werte deutlich aus der Spur laufen. Genau dort lohnt sich der Blick hinter die Kulissen.

 

Die Beispiele, die bei mir hängen geblieben sind

Richtig lebendig wurde das Konzept für mich durch die Beispiele, die Prof. Dr. Nils Herda vorgestellt hat. Eine kleine Auswahl:

 

1. Der Friseursalon mit guten Zahlen und schlechter Stimmung

Ein Friseurbetrieb, äußerlich erfolgreich: Umsatz leicht über Plan, Produktverkäufe steigen, Haarefärben als wichtigste Dienstleistung hoch, die Stühle überwiegend ausgelastet. In der klassischen Sicht wäre alles in bester Ordnung.

Die Spannungsbilanz zeigte jedoch ein anderes Bild:

  • Mitarbeiterbindung ging deutlich zurück.
  • Die Stimmung im Team verschlechterte sich merklich.
  • Vorausbuchungen nahmen ab.
  • Die Online-Bewertungen sanken.

Die Interpretation: Im Inneren baut sich eine Spannung auf. Wenn die Stimmung im Team kippt, trifft das irgendwann auch die Kundenerfahrung – und dann die Umsätze. Der Engpass ist hier klar intern: Führung, Teamkultur, Arbeitsbedingungen. Ohne Korrektur wird aus dem heute noch guten Betrieb ein morgen gefährdetes Geschäftsmodell.

 

2. Das IT-Beratungsunternehmen mit Abhängigkeit vom Hersteller

Im zweiten Beispiel ging es um ein Unternehmen, das eine bestimmte CRM-Software implementiert. Eigene Kennzahlen wie Umsatz und Projektvolumen sahen ordentlich aus. Die Spannungsbilanz bezog aber auch die Empfehlungen durch den Softwarehersteller mit ein:

  • Der Aktienkurs des Herstellers war stark gefallen.
  • Der Gesamtumsatz des Herstellers ging zurück.
  • Es gab weniger Empfehlungen vom Hersteller an das IT-Unternehmen als Implementierungspartner.

Hier lag der Engpass nicht im eigenen Unternehmen und auch nicht beim Endkunden, sondern beim Hersteller. Wenn dieser Marktanteile verliert oder sein Produkt an Attraktivität einbüßt, muss sich der Implementierungspartner fragen, ob sein Geschäftsmodell zukunftsfähig bleibt – und ob es Zeit wird, das Portfolio zu erweitern.

 

3. Das Industrieunternehmen mit Energie- und Wettbewerbsdruck

In einem weiteren Beispiel ging es um ein klassisches Industrieunternehmen mit starker Produktion. Die Spannungsbilanz zeigte:

  • Umsatz und Ertrag im Rahmen.
  • Energie- und Rohstoffpreise deutlich gestiegen.
  • IT- und Cybersecurity-Themen unterentwickelt.
  • Neue Konkurrenz aus China mit hohen Zuwachsraten.

Hier wird sichtbar: Der Engpass der Zukunft liegt nicht in der aktuellen Auslastung, sondern in den Kostenstrukturen und der Wettbewerbsfähigkeit. Wer Energiepreise, IT-Sicherheit und neue Wettbewerber ignoriert, steuert mit Tempo auf einen Problemberg zu – während die Bilanz noch gut aussieht.

 

Was die Spannungsbilanz leisten kann – und was nicht

Für mich fasst sich der Kern so zusammen:

  • Die klassische Bilanz schaut laut Herda in den “Rückspiegel”.
  • Die Spannungsbilanz versucht, nach vorne zu schauen und Veränderungen früh zu erkennen.
  • Im Zentrum stehen nicht Schuldfragen, sondern Verständnis: Wo baut sich Spannung auf? Wo liegt der jeweils wirksamste Engpass?
  • Immaterielle Faktoren – vom Teamklima bis zum Wissen im Unternehmen – bekommen einen systematischen Platz in der Steuerung.

Natürlich ersetzt eine Spannungsbilanz kein detailliertes Controlling und keine tiefe Analyse. Aber sie ist ein Instrument, um im Top-Management die richtigen Fragen zu stellen: Wo müssen wir handeln, bevor es teuer wird? Wo stimmt das Verhältnis von internen und externen Engpässen nicht mehr?

 

Mein persönliches Fazit vom StrategieCamp 2025

Was ich aus dem Vortrag von Prof. Dr. Nils Herda mitnehme: Es lohnt sich, in der Unternehmenssteuerung mutiger mit immateriellen Größen zu arbeiten. Gerade in einer Zeit, in der Daten in rauen Mengen verfügbar sind, ist es verführerisch, nur das zu betrachten, was sich „sauber“ messen lässt.

Die Spannungsbilanz erinnert daran, dass gute Steuerung immer auch etwas mit Erfahrung, Bauchgefühl und gemeinsamer Reflexion zu tun hat. Für mich als jemand, der Unternehmen bei Strategie und Kommunikation begleitet, ist das ein starker Impuls, nicht nur auf Messages und Kampagnen zu schauen, sondern auch auf die Spannungen dahinter.

Wer gerne selbst Tiefer ins Thema eintauchen möchte, dem empfehle ich Prof. Dr. Nils Herdas YouTube Video dazu: https://www.youtube.com/watch?v=CzkYo0hVWKE

Hinweis: Dieser Beitrag ist meine persönliche, verkürzte Zusammenfassung eines Vortrags von Prof. Dr. Nils Herda beim StrategieCamp 2025. Er basiert auf meinen Notizen und Eindrücken und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eventuelle Verkürzungen oder Fehlinterpretationen liegen bei mir, nicht beim Referenten.

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